Das ist genau der Standortvorteil den wir Nutzen müssen
Neue österreichische Welle
Ein Vorarlberger gehört zu den Schweizer Topskorern - Sport und Ruhm locken immer jüngere Landsleute über die Grenze
Philipp Muschg
Rapperswil-Jona Es wäre eine der schönsten Gegenden der Schweiz. Der Walensee mit seinem mediterranen Nordufer, den mächtigen Churfirsten, dem Weltkulturerbe Sardona. «Wo die Berge auf dem Kopf stehen», wirbt der Tourismusverbund. Doch die Familie Taibel aus Vorarlberg hatte irgendwann für all das keine Augen mehr.
«Bis Weesen wurde gegessen», sagt Vater Jörg, «danach haben wir uns unterhalten oder Jonas hat ins Handy geschaut - und ab Sargans hat er gelernt.» Auf der Hinfahrt war es umgekehrt. Alles, was es zu besprechen gab, fand im Auto statt.
«Genau 70 Minuten dauert ein Weg», sagt Mutter Petra, «ich bin das ja oft genug gefahren.»
«Fast 30 000 Kilometer haben wir allein im letzten Jahr gemacht», sagt Jonas. Der 14-Jährige ist der Grund dafür, dass die Taibels seit Sommer 2016 unzählige Male den Asphalt zwischen dem österreichischen Rankweil und dem Oberen Zürichsee unter die Räder nahmen. Jonas ist Nachwuchsstürmer bei den Lakers. Er lebt den Traum von einer Karriere im Eishockey. Einer Karriere wie der von Dominic Zwerger - vielleicht noch besser.
An Zwerger führt in Vorarlberg wenig vorbei. Mit 13 spielte der Junge aus Dornbirn erstmals in der Schweizer Meisterschaft, beim SC Rheintal. Dann zog er weiter nach Herisau und Davos, später in die kanadische WHL. Als seine Juniorenzeit zu Ende war, suchte er 2017 einen Club in der Schweiz. Doch das Interesse war gering am Flügel aus dem Hockey-Entwicklungsland. Ambri war praktisch allein.
Eineinhalb Jahre später sehen elf National-League-Sportchefs schlecht aus. Mit Gregory Hofmann hat nur ein einziger anderer Schweizer in dieser Zeit mehr Skorerpunkte gesammelt als Zwerger. Ganz recht: anderer Schweizer. Denn dank seiner Juniorenjahre zählt Zwerger als Lizenzschweizer, belastet das Ausländerkontingent nicht. Und dient damit als Vorbild für eine ganze Generation junger Österreicher, die in ihrer Heimat wenig Perspektiven sehen.
Kosten tief halten mit Kleinwagen und Wohnmobil
Beim HC Davos heissen sie Payr, Baumgartner oder Kandemir. Bei den ZSC Lions Unterweger, Lebeda oder Rohrer. Bei den Lakers Vetter, Hämmerle oder Taibel. Sie sind Teenager zwischen 14 und 18. Einige kamen schon in der National League zum Einsatz. Für andere ist die höchste Liga zumindest ein Ziel. Allen ist gemein: Sie und ihre Familien haben dafür keine Mühe gescheut.
Denn günstiger ist das Leben und Spielen hierzulande wirklich nicht. «Ein Jahr mit Ausrüstung, Gebühren und Reisen kostet in der Schweiz ein Vielfaches von Österreich», weiss Jörg Taibel. Einen gebührenpflichtigen Parkplatz vor einer Eishalle hat er in Vorarlberg noch nie gesehen. Und für die täglichen Fahrten haben die Taibels extra einen Kleinwagen angeschafft, um die Benzinkosten tief zu halten. Damit sind sie nicht einmal extrem. «Die Eltern von Vinzenz Rohrer haben ein Wohnmobil gekauft», so Petra Taibel.
Von der Schule nicht zu sprechen. Seit letztem Sommer profitiert Jonas zwar davon, dass er in Feldkirch die Möglichkeit hat, nur von Montag bis Mittwoch präsent zu sein. Den Stoff der übrigen Tage holt er individuell nach, meist bei seiner Gastfamilie in Jona, wo er die zweite Wochenhälfte verbringt. In den beiden Jahren zuvor aber begann mit Sargans noch jeden Tag die Zeit zum Pauken.
Der Grund dafür, dass es junge Österreicher nach Westen zieht, ist klar. Dem Hockey in der Heimat fehlt es an Geld und damit an professionellen Trainern, Infrastruktur, Konkurrenz, Perspektiven. Einzig in Salzburg, wo Red Bull viel Geld investiert, können sich Junge unter erstklassigen Bedingungen entwickeln. Aber selbst dort ist der Durchschnittslohn der ersten Mannschaft nur halb so hoch wie in der Schweizer Liga. Andernorts kann man mit Faktor vier rechnen - es gibt österreichische Nationalspieler, die verdienen nur 40 000 Franken im Jahr.
Das sind keine verlockenden Aussichten. Und so verliert Vorarlberg Jahr für Jahr seine besten Talente. Vom heutigen Lugano-Verteidiger Stefan Ulmer, der 2005 in die ZSC-Organisation wechselte, über Zwerger bis zum erst 17-jährigen Marco Rossi, den es via GCK Lions nach Kanada zog und der als Top-Ten-Kandidat für den NHL-Draft 2020 gilt.
Sie alle nutzten dasselbe Einfallstor in die Schweiz: den SC Rheintal. Der Club aus dem st.-gallischen Widnau unterhält eine Partnerschaft mit den Bulldogs aus dem zehn Kilometer entfernten Dornbirn. Die Junioren werden gemeinsam geführt - eine Kooperation, die auf beiden Seiten des Rheins existenziell ist. Zu klein ist das Einzugsgebiet im eigenen Land.
Für die jungen Sportler beginnt mit dem Schritt über die Grenze auch ein persönlicher Reifeprozess. Als Zwerger seine erste Saison mit Rheintal bestritt, sammelte er in 15 Spielen 102 Strafminuten. Der Sportkoordinator des SC Rheintal, Roger Weder, sagt darum: «Ich habe selten einen Spieler gesehen, der sich so stark gewandelt hat.»
Weders Club profitiert vom Talentfluss aus dem Osten. Aber er musste sich auch daran gewöhnen, dass die Besten bald weiterziehen - zu jenen Schweizer Grossclubs, die am schnellsten zu erreichen sind und die besten Perspektiven bieten. Davos, Rapperswil-Jona, Zürich, Zug. Gut die Hälfte der 28 Österreicher, die diese Saison in der National League, der Swiss League oder den höchsten zwei Juniorenstufen zum Einsatz kamen, machten zuvor in Widnau Station.
Umgekehrt kann es sich längst kein Schweizer Club mehr leisten, seinen Nachwuchs nur in der engsten Region zu rekrutieren - zu gross ist der Konkurrenzdruck, der sportliche Abstieg wäre programmiert.
Entsprechend wird um die Talente gebuhlt. Taibels besuchten drei Interessenten: Trainer und Umfeld stimmen überall, am Ende gab auch das Gefühl den Ausschlag. «Mir hat es hier schon gefallen, als ich mit anderen Teams gegen die Lakers spielte», erklärt Jonas. Vater Jörg beeindruckte damals, wie die Kinder im Verein miteinander umgingen.
Mit der Lakers-Mütze ins Training? «Immer!»
Das klingt zwar wie ein Werbespot. Aber wahrscheinlich passt diese Wahl zu einem Spieler, der bei den Lakers als «eher ruhig und sehr zielstrebig» wahrgenommen wird, so Thomas Walser, Geschäftsführer beim Nachwuchs. Generell erlebt er die jungen Österreicher im Club als «sehr bescheiden und bereit, hart zu arbeiten». Einen Mentalitätsunterschied zu den Schweizern erkennt er so wenig wie die Taibels.
Die sind mit ihrer Wahl nach wie vor glücklich. Wenn Jonas von der Gastfamilie mit dem Velo ins Training fährt, trägt er eine Mütze mit Lakers-Schriftzug - «Immer!», wie er betont. Und seine Eltern haben den Vertrag am Obersee gerade um zwei Jahre verlängert. Nicht überall wäre das eine Meldung wert, hier durchaus. Denn Zug und Bern wollten den 14-Jährigen unbedingt abwerben. Einen Agenten hat er auch schon. Willkommen im Schweizer Eishockey!